Jusos Hessen-Nord

Ein Kommentar über die Digitalisierung an Schulen

Es geht los: Digitalisierung an Schulen

Vor sage und schreibe 12 Jahren haben wir an unserer Mittelstufe die „Informatik-AG“ gegründet. Ich, als unsportlicher, fauler 13-jähriger, sah nur die Möglichkeit auch in den Pausen drinnen zu bleiben, mit den Freunden heimlich Warcraft 3 zu zocken und eine leicht verdiente 1 im Zeugnis zu sichern. Dabei waren es schon die ersten Anzeichen der rollenden Digitalisierung an deutschen Schulen.

Ein ganzes Wochenende verbrachten wir damit, die Deckenplatten anzuheben und LAN-Kabel an die verschiedenen WLAN-Router im Gebäude zu verlegen. Die berühmten WLAN-Kabel. Ich will nicht bewerten, wie gut wir unseren Job zu der Zeit machen. Jedenfalls dauerte es noch mehrere Jahre bis die Schule ein stabiles WLAN-Netz hatte. In meinem Studium bin ich an diese Schule als Vertretungskraft im Rahmen des Unterrichtsgarantie Plus Programms zurückgekehrt. Natürlich hatte sich einiges getan. Smartboards in vielen Unterrichtsräumen, fast überall Beamer, ordentliches WLAN hatte ich jedoch immer noch nicht. Und durch die aktuelle Pandemiesituation hat sich wieder einmal schlagartig alles geändert.

37 Millionen Euro hat das Land Hessen für die Digitale Endgeräte-Ausstattung zu Verfügung gestellt bekommen. 37 Millionen Euro, bei 321 Schulen und 683.700 Schülerinnen und Schülern in Hessen, bekommt jede*r ungefähr ein Fünftel eines IPads. Naja gut.

Meine Schule hatte sich dazu entschlossen, erst einmal die 8. Jahrgangsstufe komplett mit IPads auszustatten. Ein sinnvoller Schritt. Die Kinder haben im Schnitt noch drei Jahre in der Mittelstufe vor sich und sind mittlerweile in einem Alter, dass man ihnen guten Gewissens ein teureres Endgerät zur Verfügung stellen kann ohne, dass sie damit Frisbee in den Gängen spielen. Während der Sommerferien liefen die Vorbereitungen auf den digitalen Aufbruch der Schule auf Hochtouren. Das WLAN-Netz wurde komplett überarbeitet und funktioniert! Ein Endgeräteverleih auf die Beine gestellt, Software zur Unterstützung des Lehrplanes ausgesucht und installiert und der Kreis als Schulträger war verantwortlich für die Logistik. Tausende Tablets wurden in den wenigen Wochen bestellt, eingerichtet und an die Schulen verteilt.

Was sich im Kurzen wie eine Erfolgsgeschichte anhört, ist bei einer näheren Betrachtung jedoch einigermaßen absurd. Denn obwohl das Land sich damit rühmen kann Geld an die Schulen verteilt zu haben, ließen sie die Schulträger und Schulen im weiteren Prozess allein. Wenn man allen Schulträgern gleichzeitig den Auftrag gibt, unabhängig voneinander tausende Endgeräte zu kaufen, passiert nämlich folgendes: Zu den meistbegehrtesten Gütern während der Corona-Pandemie gehörten: Desinfektionsmittel, Toilettenpapier, Nudeln und Apple IPads.

Doch nicht nur die Beschaffung der Geräte hat das Land nicht koordinieren wollen. Die Vorbereitung auf die Nutzung der Geräte für den Schulunterricht wurde den Schulen selbst überlassen. Das Resultat daraus ist, dass 321 Schulen in Hessen sich Softwarelizenzen für die unterschiedlichsten Lernprogramme kauften. Anstatt diesen digitalen Fortschritt einigermaßen zu organisieren, entschied sich die Landesregierung zu einer hessenweiten, digitalen Experimentierphase und ich bin sehr gespannt, welche Ergebnisse wir daraus präsentiert bekommen. Eindeutige Gewinner kristallisieren sich nach wenigen Wochen schon heraus. Nämlich die Schülerinnen und Schüler.

Eine Generation, die Facebook übersprang und Snapchat gar nicht mehr kennt. Ein Klassenraum mit 27 Kindern, genau so vielen IPads und ebenso vielen Kameralinsen. Als Lehrkraft vor so einer Klasse weckt das den ein oder anderen Anflug von Paranoia. Wo man früher noch Handys einkassieren konnte, schweben heute in wenigen Sekunden Nachrichten und Memes per Air-Drop durch die Klasse. Kaum zu glauben, dass ich damals wirklich noch Zettelchen schrieb.

Doch der Digitalisierungsprozess ist nicht nur Fortschritt. Als Bedingung für die Vergabe der Fördermittel stehen auch Fortbildungsmaßnahmen für die Lehrenden. Ein fraglos wichtiger Punkt um eine Klasse voller durchdigitalisierter und pubertierender SuS zu bändigen. Für andere Programme wie das Demokratie-leben-Projekt oder Projekte zur Inklusion ist dann jedoch gerade kein Platz. So verdrängt die Digitalisierung weitere wichtige Prozesse der Schulentwicklung.

Zum Gesamtbild gehören aber auch die eindeutig positiven Seiten des Prozesses. Eines Abends klingelte die ehemals Geflüchtete Familie, die über uns wohnt, und fragte, ob wir ihnen helfen könnten. Ihre Tochter, die die 3. Klasse besucht, hatte von ihrer Schule einen Laptop zur Verfügung gestellt bekommen, um während einer eventuellen Schulschließung bei Corona-Ausbrüchen Zugang zu ihren Hausaufgaben zu haben. Die Familie hatte noch nie PC besessen und wusste nicht, wie sie ihren E-Mail-Account verbinden konnte.

Es bleibt zu hoffen, dass durch die Soforthilfe-Endgeräte des Bundes finanzielles Privileg eine weniger große Rolle in der Bildung spielt. Das Bildung irgendwann wirklich kostenfrei wird. Dass jede und jeder wirklich den gleichen Zugang zu Bildung bekommt. Wir werden dafür kämpfen. Immer und immer weiter.

Jari Pellmann, 25, Vertretungslehrer an einer nordhessischen Mittelstufe, schildert seine Erfahrungen über den Digitalisierungs-Prozess während Corona.