Jusos Hessen-Nord

Ein Kommentar über die notwendigen Schritte zu einer SPD der Vielfalt

Nicht mehr reden. Endlich machen.
Immer wieder stelle ich mir die Frage, wie es passieren konnte, dass die SPD – aber auch
wir Jusos – so wenig divers wurden. Früher war es ganz einfach: Bist du Arbeiter*in, dann
wählst du die SPD. Bist du „Ausländer*in“, dann wählst du die SPD.
Immer mehr musste man aber feststellen, dass unsere Wähler*innen mit
Migrationsgeschichte zu anderen, deutlich kosmopolitischer auftretenden Parteien
wanderten. Lange Zeit war es gerade die SPD, die unter Menschen mit
Migrationshintergrund die beliebteste Partei war. Das hat sich – langsam aber stetig – an
das Wahlverhalten der Menschen ohne Einwanderungsgeschichte angeglichen. Doch ist
dies keinesfalls eine „Normalisierung“, die wir akzeptieren sollten. Bekanntermaßen haben
rund 20% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund und
selbstverständlich sind diese auch keine homogene Masse! Allerdings gibt es Themen, die
besonders in den letzten Jahren an Bedeutung hinzugewonnen haben: Rassismus bei der
Job- oder Wohnungssuche, Diskriminierungserfahrungen mit Polizei und Behörden,
fehlende Partizipationsmöglichkeiten bei Wahlen und vor aAllem Repräsentation in der
Politik. Es sind Problemfelder, die bereits seit Jahren und Jahrzehnten bestehen. Es sind
persönliche Kränkungen und reelle Benachteiligungen, die bis heute kaum adressiert
wurden. Und mit dem Erstarken des Rechtsextremismus (vor aAllem hier in Hessen), ist
eine alte Gefahr zurückgekehrt.
Bald 30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen und Solingen müssen PoCs (People of Color)
wieder Angst um ihre Sicherheit haben. Noch heute merke ich, wie die Ereignisse in Halle
(Saale) oder Hanau, die migrantische Community tief erschütterten. Immer öfter fragen
sich meine migrantisch markierten Freunde, ob es hier noch sicher sei. Es scheint, als
hätte bereits dieses Gefühl von Unsicherheit, die Zukunftsperspektive von PoCs in
Deutschland beeinflusst. Doch immer öfter kommt die Frage: „Warum ist Hanau kein
Thema mehr?“. Auch wenn viele Fragesteller*innen diese generell an die Politik richten, so
verstehe ich solche Fragen auch als Aufforderung an unsere Partei: „Kümmert euch“. Das
verstehe ich. Doch was bedeutet das?
Rassismus, Diskriminierung und Vielfalt ist Realpolitik
In den letzten Jahren fiel in Gesprächen mit Funktionär*innen und Mitglieder*innen oft das
Wort „Realpolitik“. Im Gegensatz zur gängigen Bedeutung, also der Durchsetzung
machtpolitischer Interessen, kommt es mir so vor als meinten sie dabei vor Aallem
Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik oder auch mal Sozialpolitik. Fast immer wird dieser Begriff
in Abgrenzung zu Themen wie Antidiskriminierung und Geschlechtergerechtigkeit
verwendet. Fast immer wird dieser Begriff von Menschen verwendet, die nicht wesentlich
von diesen Themenfeldern betroffen sind. Also kaum Diskriminierungserfahrungen haben.
Solange Antirassismus und Feminismus als „ideologie-beladenes“ Anhängsel von (Partei-)
Programmen behandelt werdenird, werden wir nicht alle Menschen erreichen, die es
bedarf, um wirklich eine Volkspartei zu sein. Denn für Frauen ist der Gender-Pay-Gap,
Realpolitik. Denn für PoCs ist die doppelte Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung im
Bewerbungsverfahren im Vergleich zu ihren nicht-migrantischen Freunden, Realpolitik.
Diskriminierungen schränken die Lebensqualität weiter Teile der Bevölkerung ein, sie
verhindern gesellschaftlichen Aufstieg und treiben uns auseinander. Diskriminierungen
sind ein maßgebliches Problemfeld geworden und so sollte es auch behandelt werden.

Arbeiter*innen-Partei ohne Arbeiter*innen, Ausländer*innen-Partei ohne
Ausländer*innen?
SPD- Bundestagsabgeordneter Karamba Diaby fordert immer wieder, dass wir „bunter
werden müssen“. Er ist einer der Wenigen im deutschen Bundestag, die eine
Migrationsgeschichte haben, er ist der einzige Schwarze Abgeordnete. Die Zahl der PoCs
im deutschen Bundestag, in den Landesparlamenten und auf kommunaler Ebene ist
seitdem nicht gestiegen. Die gesteigerte Repräsentanz eines Viertels der Bevölkerung
kommt nur schleppend voran. Repräsentanz bedeutet hier nicht nur, dass man
Interessenvertreter*in ist, sondern auch bis zu einem gewissen Grad Lebensrealitäten
nachvollziehen kann und bestenfalls den Einfluss getroffener Entscheidungen auf diese
Lebensrealität einschätzen kann.
Diese Lebensrealität scheint der aktuelle Bundestag allerdings nicht sonderlich gut
abzubilden: 20% der Bundestagsabgeordneten sind Jurist*innen, danach folgen
Ökonom*innen, Politikwissenschaftler*innen und Lehrer*innen. Ein Parlament der
Arbeiter*innen scheint damit weit entfernt. Der Anteil von Abgeordneten mit
Migrationsgeschichte entspricht mit 8% nichtmalnicht mal ansatzweise dem Anteil in der
Bevölkerung. Mit 18,8% hat lediglich die Linke einen ähnlichen Anteil. Die SPD kommt auf
nur 9,8%. Frauen sind mit 31,2 % ebenfalls unterrepräsentiert.

Vielfalt heißt Macht abzugeben
Wenn Menschen mit Migrationsgeschichte für eine Wahl nominiert werden, dann heißt
dies, dass unter Umständen angestammte Kandidat*innen nicht mehr nominiert werden.
Wenn mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die Kreisverbands- und
Stadtverbandsvorstände kommen sollen, dann heißt das, dass solidarische Genoss*innen
verzichten sollten. Wenn PoCs in die Parlamente kommen sollen, dann heißt es, dass sie
sichere Listenplätze bekommen müssen. Wenn wir wieder eine sogenannte
„Ausländer*innen“-Partei sein wollen, dann heißt es, dass wir dieses Thema ernst nehmen
müssen. Denn Vielfalt heißt Verzicht. Vielfalt heißt Macht abgeben.