„Die sozialdemokratische Partei befindet sich in einer schweren Krise. Ihre Wahlniederlage bei den Landtagswahlen […] hat das Bewusstsein auch in jenen Parteikreisen geschärft, die noch meinten, sie könnten sich hinwegmogeln über die Fragen, die dieser Partei gestellt sind. […] Die SPD wird mit diesen Problemen fertig werden müssen, denn die Bundesrepublik kann ohne eine intakte SPD sicherlich nicht existieren. Freilich, die Diskussionen, die jetzt geführt werden, müssen gründlicher werden, als sie es in den letzten Jahren gewesen sind. Die SPD muss sozusagen die Notwendigkeit klar erkennen und entsprechend handeln, dass sie wieder einmal diskutieren muss, so als gälte es, Godesberg neu zu formulieren. Es müssen keine anderen Ergebnisse herauskommen, aber es muss wieder mit jener Redlichkeit nach allen Seiten hin diskutiert werden in der Partei, wie es vor der Verabschiedung des Godesberger Programms üblich gewesen ist. Die Partei befindet sich in einer schweren Krise. Vielfach wird die Große Koalition […] dafür verantwortlich gemacht, dass die Sozialdemokratie außer Tritt geraten ist. […] Sie haben in der Phasen der allgemeinen teils wirklichen teils scheinbaren Entideologisierung in der Bundesrepublik mit dazu beigetragen, die SPD als Volkspartei neuen Wählerschichten zu öffnen. Besteht nicht aber jetzt nach Erreichen dieses Ziels sehr bald die Gefahr, dass die SPD in der Phase der Reideologisierung falsch bewaffnet ist?“.
Der oben stehende Abschnitt enthält Sätze über die deutsche Sozialdemokratie, wie sie heute in jeder Zeitung stehen. Dabei sind sie knapp ein halbes Jahrhundert alt. Sie stammen aus einem Fernsehgespräch zwischen Günter Gaus und Herbert Wehner aus dem Jahre 1968. Anlass waren die verlorene Landtagswahl der SPD in Baden-Württemberg, bei der die NPD knapp 10% der Stimmen erzielte und allgemeine Querelen in der 1966 im Bund gebildeten Großen Koalition. Man kommt während des gesamten Interviews, welches im Übrigen auf YouTube in voller Länge angeschaut werden kann, nicht umhin Parallelen zur heutigen Zeit ziehen zu wollen. Herbert Wehner muss sich Fragen zum fehlenden Profil der SPD, Zweifeln an der Großen Koalition und mangelnden Chancen der SPD bei zukünftigen Wahlen stellen. Der damalige Minister für gesamtdeutsche Fragen verteidigt den seit dem Godesberger Programm eingeschlagenen sachbezogenen Kurs der Partei hartnäckig. Am Ende des Interviews hat man allerdings nicht den Eindruck, dass es sich bei der SPD um die Partei handelt, die in den darauffolgenden Jahren die Bundesrepublik für 13 Jahre regieren und maßgeblich verändern wird.
Warum der Bezug auf dieses Interview so kurz vor der Bundestagswahl 2017? Ich möchte mit dieser historischen Parallele vor allem zwei derzeit sehr lautstarken Lagern entgegentreten. Zum einen, denen, die die SPD für die prinzipiell richtige Partei für die kommenden Jahre halten, aber davor zurückschrecken sie zu wählen, da sie zu wissen glauben, die CDU würde ohnehin die Bundesrepublik weiter regieren. Auch 1968 gab es keine Anzeichen dafür, dass die SPD 1969 zum ersten Mal mehr als 40% bei einer Bundestagswahl erreichen und den Bundeskanzler stellen würde. Zu groß schien die Übermacht der CDU, zu groß das Interesse mancher Sozialdemokraten, die Große Koalition nach 1969 fortzusetzen. Und es kam doch anders … Zum anderen denen, die meinen, es mache keinen Unterschied, ob man SPD oder CDU wähle. Es ist schon wahr, dass die SPD mit dem Godesberger Programm sich von einigen weltanschaulichen Ballast und ideologischen Attrappen entledigte und in der Großen Koalition ab 1966 der CDU als Juniorpartner zum weiterregieren verhalf. Es ist gleichfalls wahr, dass die SPD mit der Agenda 2010 wirtschaftsliberale Reformen beschlossen hatte und in den zwei darauffolgenden Großen Koalitionen Kompromisse mit der CDU einging. Daraus zu schließen, es mache für die nächsten Jahre keinen Unterschied, wer das Land regiere, ist aber falsch. Wer 1969 gesagt hätte, es mache keinen Unterschied, ob Kurt-Georg Kiesinger als ehemaliges Mitglied der NSDAP die deutsche Außenpolitik gestalte oder Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik, hätte genauso falsch gelegen.
Kurzum: Zu jeder Wahl, im Rückblick: auch zu jeder erfolgreichen Wahl, musste sich die SPD im Vorfeld mit Problemen und (teils berichtigter) Kritik beschäftigen. Dies ist aber kein Grund aufzugeben. Auch für zukünftige Wahlkämpfe muss im Blick behalten werden: So düster Medien und Floskeln die Lage auch zeichnen, die Zukunft bleibt offen.
von Torben Stein