Sechs Wochen bin ich unterwegs gewesen, ausnahmslos in Deutschland und ausnahmslos mit dem Zug. Das klingt zuerst gar nicht so spannend, möchte man meinen. Für mich sah das aber ganz anders aus. Ob Berlin oder München, Kassel, Lüdenscheid oder Leipzig und mit etwas zwei Tagen, die ich am Ende insgesamt in Zügen verbracht habe, sind auch die Eindrücke die ich vor Ort gewonnen habe enorm. Eines fiel mir aber besonders auf – Man führt viele Gespräche irgendwie mehrmals, mit dem selben Ergebnissen und meist auch dem selben Schulternzucken und „Hmm … “ – Lauten der Gesprächspartner.
Doch worum ging es? Ein Paradebeispiel für ein solches Gespräch fand auf meiner Rückreise von Berlin nach Kassel statt. Ein älterer Herr, der schon seit Beginn der Fahrt lautstark mit seinen ihm unbekannten Sitznachbarn redete, ließ ein mehr oder minder bekannten Fetzen fallen: „Ich habe ja nichts gegen Ausländer die sich hier an die Gesetze und unsere Werte halten, aber … „. Es ist genau dieser Satz der mir in dieser Art und Weise so häufig begegnet ist wie kein anderer. Jetzt vermutet sicher jeder: Oh, ich weiß wohin das führt. Natürlich habe ich mich eingemischt, wie bei so vielen Stammtischgesprächen während meiner Reise.
Zu meinem Erstaunen sind die Gespräche nie so ausgefallen, wie ich es zuerst vermutet habe. Sicherlich, den Meisten war ersteinmal Unwohl dabei, das ihnen jemand Kontra geboten hat. Aber in aller Regel, außer in zwei extremen Fällen, führten die Gespräche immer, wie oben schon gesagt, zum selben Ergebnis. Rote Linie war für die meisten: „Die Ausländer sollen unsere Werte anerkennen.“ Nun bin ich kein Fan von Assimilation, aber in dem Sachverhalt muss ich zumindest in einer Sache zustimmen: Ja, wir sind eine freie rechtsstaatliche Demokratie, die auf der Menschenwürde fußt und wir erwarten von jedem, der hier lebt und leben möchte, sich daran zu halten. Das gilt aber sehrwohl nicht nur für Menschen, die hier Asyl suchen, sondern auch für jene, die ihnen Asyl gewähren. Uns. Es war immer ein wenig erheiternd, dass die Menschen bei diesem Argument angefangen haben nachzudenken. Dazu für mich, der gerade die Ergebnisse derAfD in Mecklenburg verdauen musste, ebenso ein Hoffnungsschimmer.
Auf welche Frage haben die meisten Leute nun mit dem Schulternzucken reagiert?
„Was sind eigentliche unsere Werte?“
Sind es Werte wie jeden Tag arbeiten zu gehen, unabhängig vom Lohn? Ist es Fleiß, Disziplin, Obrigkeitshörigkeit? Oder sind es die Werte Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde wie im Grundgesetz verankert? Darauf wollte niemand sofort antworten, als ob es gefährlich sein könnte. Natürlich sind es primär die Werte, die in der Menschenwürde verankert sind (wie Freiheit, Gleichheit etc.), aber eben auch die Werte des Sozialstaats und der sozialen Marktwirtschaft. Mir ist zwar bewusst, dass es einen Teil der gesamten Bevölkerung gibt, der selbst die nicht unterstützt, gegen die wir kämpfen müssen. Doch eine wirkliche Alternative ist diese „Alternative“ eben nicht, weil sie einen Weg ins dunkle Zeitalter der Geschichte wagen wollen.
Völkisch positiv besetzen? Frauen zurück an den Herd? Ausländer an der Grenze abschiessen? Europa auflösen? Wenn man sich die Rädelsführer dieser „Partei“ anhört, kann es nur zwei Reaktionen darauf geben. Zuerst muss einem schlecht werden. Dann muss man dagegen aktiv werden. Rückschritt hat noch nie ein Land nach vorn gebracht. Auch das habe ich versucht den Menschen in meinen Gesprächen klar zu machen. Eine Sache ist leider auch nicht von der Hand zu weisen: Jahrzehnte lang regieren die „alten“ Parteien, auch die Sozialdemokratie und es kam die Frage auf, was eigentlich Sozial an uns sei? Den Meisten, denen ich begegnet bin, waren nicht per se gegen Asyl oder Flüchtlinge oder gar rechts, wollten aber Lösungen für die herrschenden Probleme und vor allem wollten sie nichts verlieren. Die Angst vor dem Verlust von im Prinzip irgendwas hat viele motiviert, regressive Politik bzw. Rhetorik zu unterstützen.
Das ist in gewisser Weise sogar verständlich. Immerhin ist seit der Wiedervereinigung Einiges in diesem Kontext schief gegangen. Die Zerlegung des Rentensystems (im Armutsbericht von 2012 wurde prognostiziert, dass 42% der Erwerbstätigen unter Altersarmut leiden werden), die Zerlegung des Sozial- und Arbeitslosensystems, die Schwächung der Arbeitnehmerrechte und der Vollbeschäftigung, die Einführung und die Lücken bei der Leiharbeit, die mehreren Nullrunden die auch von Gewerkschaften verteidigt wurden … Die Liste könnte noch sehr lang weiter gehen. Fazit ist: Die meisten Reallöhne sind gesunken, die Absicherungsmechanismen aufgeweicht und die Probleme, dank der „schwarzen Null“ Politik, werden einfach aufgeschoben und nicht behandelt. Wenn man ehrlich ist, werden vor allem junge Menschen die leidtragenden der vergangenen und heutigen Politik und gesellschaftlichen Entwicklung sein.
Doch was tun?
Ich hab sicher nicht die Weißheit mit Löffeln gefressen, wie man so sagt. Ich kenne aber auch Metaphern wie: „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab.“ Es gibt sicher genug politische Felder, in denen man jetzt verfehltes Handeln anprangern kann, mir jedenfalls fallen mehr ein als ich Finger an der Hand hab. Aber um es dort ausnahmsweise kurz zu machen: Wir müssen uns endlich abkehren von der neoliberalen Politik. Sicherlich darf man nicht die wirtschaftliche Grundlage zerstören, aber man darf ebensowenig die gesellschaftliche und soziale Grundlage zerstören – weder in Deutschland, noch in Europa (und eigentlich auch nicht auf der ganzen Welt, aber wir können ja nicht alles beeinflussen.) Wir brauchen wieder zukunfstfähige, kreative Ideen und Vorschläge, die nicht im Meer der „Feuerlöscher“-Politik untergehen. Derzeit rennt man von einem Brandherd zum nächsten, ohne sich zu Fragen: Wo wollen wir eigentlich hin? Es wird mal wieder Zeit für den Wunsch einer besseren, modernen Gesellschaft. Zeit, aktiv zu werden.
Gute Fahrt.
von Sebastian Fiedler