Zur aktuellen Diskussion um Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien
„Die CSU hat Europa nicht verstanden“, mit diesen Worten wird der neue Staatsminister für Europa, Michael Roth, derzeit in den deutschen Medien zitiert. Hiermit mag Roth, der derzeit auch noch Generalsekretär der Hessen-SPD ist, recht haben. Aber hat die SPD Europa denn eigentlich wirklich verstanden?
Zu einer der Grundfreiheiten der Europäischen Union zählt die so genannte Personenfreizügigkeit, also das Recht aller Unionsbürger*innen sich überall innerhalb der Europäischen Union niederlassen zu dürfen. In den europäischen Verträgen klingt dies so:
„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem […] der freie Personenverkehr gewährleistet wird.“i
Konkretisiert liest man in einem weiteren Artikel:
„Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“ii
Und schlussendlich heißt es:
„Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.“iii
Aus diesen vertraglichen Bestimmungen lässt sich schlussfolgern, dass mit Beitritt eines Staates zur Europäischen Gemeinschaft auch für die nun „neuen“ Unionsbürger*innen diese Freizügigkeitsregeln voll zutreffen. Die freie Zirkulation von Kapital, Dienstleistungen, Waren und Personen über den gesamten Unionsraum entspräche jedenfalls der Grundlogik der europäischen Idee im Sinne der vorgestellten vertraglichen Passagen!
Mit Nichten ist dies aber der Fall! Vielmehr zeigt sich bei den vielen Erweiterungsrunden der letzten Jahre und Jahrzehnte, dass zwar die freie Zirkulation des Kapitals und der Waren sehr schnell fokussiert und umgesetzt wird, indem Handelsbeschränkungen sowie Kapitalverkehrskontrollen abgebaut werden, bei dem grundlegenden Recht der Bürger*innen hingegen werden überdies eine Reihe von Beschränkungen gefasst. Und dies mit System.
So zeigt sich, dass sich beim Beitritt vermeintlich schwächerer Volkswirtschaften zum gemeinsamen europäischen Binnenmarkt oft Befürchtungen Raum bahnen, die vor einer schnellen und großen Zuwanderung aus den neuen, wirtschaftlich schwächeren Volkswirtschaften warnen. Begriffe wie „Armutszuwanderung“, „Einwanderung in Sozialsysteme“ oder die viel beschworenen Ängste vor einer „Massenzuwanderung geringqualifizierter Arbeitnehmer*innen“, die ein Risiko für die Arbeitsmärkte darstellen, werden dabei medial gerne aufgebauscht. In Deutschland kennen wir diese Diskussionen nur zu gut und müssen sie derzeit leider wieder führen! Aber auch in anderen EU-Ländern gab und gibt es ähnliche Befürchtungen. Als Spanien und Portugal bspw. in den 80er Jahren der EU beigetreten sind, wurden auch in Frankreich viele solcher Befürchtungen artikuliert, die dazu führten Ausnahmeregelungen für die Zuwanderung und den freien Personenverkehr zu fassen.
Im Vorlauf der großen EU-Osterweiterung von 2004 bekam eine solche Diskussion hingegen noch eine ganz andere Dimension. Zum einen war bereits 1992 das Projekt Binnenmarkt vollendet worden und zum anderen trat schließlich die bisher größte Anzahl an Staaten gleichzeitig der EU bei. Allen voran Deutschland und Österreich äußerten sich damals kritisch und befürchteten, dass ohne eine zeitliche Einschränkung der vollen Freizügigkeit für Personen die oben genannten negativen Befürchtungen eintreten könnten und die deutsche wie österreichische Volkswirtschaft überfordern könnte. So wurde 2001 auf dem Gipfel von Göteborg, während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders, der so genannte Göteborger Kompromiss gefasst, der die so genannte „2-3-2-Regelung“ umfasste. Demnach stand es jedem alten EU-Mitgliedstaat offen die Personenfreizügigkeit zuerst für 2 Jahre, danach für weitere 3 und wenn gewünscht nochmals um 2 weitere Jahre einzuschränken. So konnten einzelne Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der neuen EU-Bürger*innen bis maximal 7 Jahre einschränken. Was Deutschland und Österreich auch taten.
Anders bspw. Großbritannien oder Schweden, die von 2004 an, allen neuen Unionsbürger*innen die volle Freizügigkeit einräumten. Was in der Folge beobachtet und gemessen werden konnte, war hingegen überhaupt nicht das, was zuvor von deutscher Seite aus befürchtet wurde und deshalb zur Inanspruchnahme der 2-3-2-Regelung führte. Ganz im Gegenteil, Großbritannien und Schweden profitierten massiv von der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedstaaten. Denn, anders als befürchtet, waren es vor allem hochqualifizierte, junge Menschen, die fernab von zu Hause in die alten EU-Staaten immigrierten, um dort eine Arbeit aufzunehmen. Diese jungen Arbeitnehmer*innen beeinflussten dabei in den Zuwanderungsgesellschaften die Wirtschaft mittel- und langfristig positiv. Auf Grundlage einer solchen Analyse kam 2009 auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zu dem Schluss, dass ein Auslaufen der Zugangsbeschränkungen zum Ende des Jahres 2009 positive wirtschaftliche Folgen für Deutschland haben würde.iv Dennoch entschied sich die Politik dafür auch den Zugang für zwei weitere Jahre, bis zum Ende des Jahres 2011 zu beschränken. Wieder einmal hatten sich populistische Befürchtungen durchgesetzt. Auch für die 2007 beigetretenen Länder Rumänien und Bulgarien hat die Bundesrepublik die maximale Frist von 7 Jahren nun vollends ausgeschöpft. Seit dem 01.01.2014 haben aber nun endlich auch die Unionsbürger*innen aus diesen Ländern die volle Freizügigkeit erhalten. Und was sagt das IAB dazu? „Insgesamt profitiert Deutschland von dieser Zuwanderung“v, schreiben die Arbeitsmarktforscher*innen aus Nürnberg. Scheinbar gehen aber die Analysen des IAB auf dem Weg von Nürnberg nach München regelmäßig in der Post verloren. Anders lässt sich das Verhalten der CSU nicht erklären. Oder?
Leider doch! Schließlich hat das gesamte Vorgehen System. Ein System, wie man es vielleicht aus dem Konzept „Europa à la carte“ kennt. Entsprechend, getreu dem Motto: „Ich nehme das was mir besonders gut schmeckt und den Rest lasse ich auf dem Teller liegen!“ Der freie Verkehr von Kapital und Waren ist so etwas, was der deutschen Exportindustrie und der Politik schmeckt. Arbeitnehmer*innen, die eine Perspektive suchen (müssen) hingegen bringen nur die Arbeitsmarktstatistiken durcheinander und haben einen vermeintlich bitteren Nachgeschmack, der sich „Armutszuwanderung“ nennt. Leider eine Sichtweise, die man nicht nur bei CSU und CDU trifft, sondern auch in der SPD. War es doch die Regierung Schröder und die zweite Große Koalition, die die Abschottungsmaßnahmen beschlossen. Hat also auch die SPD Europa nicht verstanden? Es scheint so. Wer nur vom sozialen Europa spricht, dabei aber hauptsächlich die Wirtschaftsintegration im Auge hat, der hat Europa nun wirklich nicht verstanden! Denn wie heißt es im Vertrag über die Europäische Union:
„Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“vi
Und
„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem […] der freie Personenverkehr gewährleistet wird.“vii
Dass dabei mit zweierlei Maß gemessen wird, ist das eigentliche Unding. Bspw. haben Zyprioten und Malteser 2004, die zeitgleich mit den osteuropäischen Ländern beigetreten sind, von Anfang an die volle Freizügigkeit erhalten! Eine europäische Zweiklassengesellschaft mit guten und schlechten Unionsbürger*innen, mag man sich denken. Aber dies ist leider europäische Realität und eben auch ein Ergebnis sozialdemokratischer Politik. In diesem Sinne kann man nur hoffen, dass die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder, die nun in Berlin in der neuen Arbeitsgruppe, die sich mit der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien befassen soll, sich darauf zurück besinnen, was die europäische Idee ausmacht und keine weiteren Zugeständnisse in Richtung der Konservativen machen! Oder wer will sich am Ende in unserer Partei sagen lassen, sie*er habe Europa nicht verstanden!?!
i Art. 3, Abs. 2, Vertrag über die Europäische Union (EUV).
ii Art. 16, Abs. 2, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
iii Art. 45, Abs. 1, AEUV.
iv Vgl. IAB-Kurzbericht 9/2009.
v IAB-Kurzbericht 16/2013.
vi Art. 3, Abs. 1, EUV.
vii Art. 3, Abs. 2, EUV.
von Johannes Gerken