„Appell geläutet, mußte man sich aufstellen. Dann kam der Blockführer, man zählte die Anwesenden. In Zehnerreihen standen wir, Zehnerreihen tief, eine lange Kolonne, Block für Block. Es kam der Blockführer. Der Blockälteste erstattete die Meldung, er zählte ab. Leichen mußten auf den Appellplatz hinausgetragen werden und dazugelegt werden, denn die wurden mitgezählt. Denn in der Leichenkammer waren nur solche Leichen, die bereits abgeschrieben waren.“ So begann die erste Zeugenaussage im Ausschwitzprozess von Otto Wolken vor 50 Jahren. Nach einer schwierigen und langwierigen Vorbereitung wurden in Frankfurt 22 Männer wegen der Verbrechen im KZ Auschwitz angeklagt.
Der Sozialdemokrat und hessische Generalanwalt Fritz Bauer hatte in akribischer und hartnäckiger Arbeit Beweise und ZeugInnen gesammelt, um den Angeklagten die persönliche Beteiligung an den Morden und Misshandlungen im Stamm- und Vernichtungslager nachzuweisen. Über 350 ZeugInnen wurden in den Jahren 1963 bis 1965 angehört. Dadurch durchlitten die meisten Zeugen ihre schrecklichen Erfahrungen aus dem Lager nochmal und wurden dabei nicht psychologisch betreut. Einige ZeugInnen mussten mit Angeklagten, die aufgrund von Kaution auf freiem Fuß wahren, im selben Hotel nächtigen. Das waren unzumutbare Zustände. Die ZeugInnen-Aussagen belasteten die Angeklagten schwer. Das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt hat die meisten ZeugInnen-Aussagen online gestellt (http://www.auschwitz-prozess.de/index.php). Die Aussagen offenbaren das unmenschliche Leid in den Lagern und sind der eindeutige Aufruf: Auschwitz darf der Menschheit nie wieder passieren!
Von den 22 Angeklagten, darunter auch der Lageradjutant Robert Mulka, wurden nach fast zweijährigem Prozess sechs zu einer lebenslangen Haft verurteilt, dreizehn zu Zuchthaus und drei frei gesprochen.
In einem Jahr der Jubiläen wie die Geburtstage der SPD (150.), Willy Brandts (100.) und Helmut Schmidt (95.) müssen wir auch den 50. Jahrestag der Ausschwitzprozesse bewusst wahrnehmen und ihm Gedenken. In einer Zeit, in der die Aufarbeitung der Shoa noch kein Thema in der Gesellschaft war, vielmehr die Beschäftigung damit als Nestbeschmutzung empfunden wurde, hat sich Fritz Bauer, trotz Drohungen gegen sein Leben, hartnäckig für eine rechtmäßige Verurteilung der Täter eingesetzt. Mit den Auschwitzprozessen begann in der Gesellschaft der BRD die ersten zögerlichen Aufarbeitungen der eigenen Geschichte und historischen Verantwortung. Fritz Bauer wurde vor 110 Jahren geboren und starb vor 65 Jahren. Wir sollten ihm und seinem Lebenwerk unseren vollen Respekt zollen und im Jahr der Jubiläen mehr Berücksichtigung und Anerkennung erweisen.
von Oliver Schmolinski