Was wir aktuell in der Ukraine verfolgen können, ist der systematische Zerfall eines Staates. Die Strategie des Interessenausgleichs mit Russland ist gescheitert. Viele offene Fragen sind unbeantwortet, leider auch die wichtigste und gleichzeitig simpelste aller Fragen – darf ein Land ein anderes in Geiselhaft nehmen, weil ihm nicht in den Kram passt, was der andere Staat so für internationale Verträge verhandelt hat? Die Antwort lautet selbstverständlich NEIN! Nach 20 Jahren gemimter Partnerschaft und schöngeredeter „gelenkter Demokratie“ muss man nun erkennen, dass selbst nach noch so stoischem Herbei-Gerede, aus einem Bären kein Schmusekätzchen wird.
„Russland verteidigt nur seine Ressourcen!“ Das ist in den vergangenen Tagen ein sehr beliebter Satz gewesen. Einer, mit dem man so seine Probleme haben kann, denn er ist fehlerhaft und verdreht darüber hinaus das Opfer/Täter-Rollenverhältnis. Der erste Fehler liegt bereits in der Beurteilung, dass es bei der Annektierung der Krim und den weiteren Ereignissen, um die Verteidigung russischen Eigentums geht. Die Krim war Teil des ukrainischen Staatsgebietes und das seit 1954. In diesem Jahr schenkte der damalige Generalsekretär der KpdsU, Nikita Chruschtschow die Schwarzmeerhalbinsel dem ukrainischen Staat. Ukrainische Angelegenheit seither.
Der zweite Fehler verbirgt sich hinter dem Begriff der „Verteidigung“. Denn dieser setzt die Notwendigkeit der Verteidigung, also eine aggressive Bedrohung, voraus. Auf der Krim war niemand bedroht, die bildschönen Küsten der Halbinsel sind weit weg von der Hauptstadt Kiew, wo die Tumulte, die Proteste stattfanden. Der dritte Fehler schließlich ist, von Ressourcen zu sprechen. Das impliziert, es ginge bei all dem nur darum, sich die staatspolitische „Luft zum Atmen“ zu erhalten. „Russland verteidigt nur seine Ressourcen!“ legt nahe, dass das Riesenreich nur tut, was jedes andere Land auch machen würde, wenn ein Versuch im Gange wäre, diesem Land die Existenzgrundlage zu entziehen. Das geschieht aber nicht. Das Einzige, was sich die russische Föderation mit der Landnahme der Krim gesichert hat, ist Sewastopol. In der Küstenstadt befindet sich der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Militär mal wieder. Janukowitsch erlaubte den Russen, dort vor Anker zu gehen, die dadurch den militär-strategischen Zugang zum Mittelmeer besaßen. Wenn die Ukraine sich über das geplante und seinerzeit zur Ratifizierung bereitstehende Assoziierungsabkommen der EU angenähert hätte, wer wäre dann in der Lage gewesen auszuschließen, dass das Nachbarland nicht auch Gefallen an einer NATO-Mitgliedschaft gefunden hätte. Niederländische und britische Truppen im Schwarzen Meer? Zu viel für Vladimir Putin. Zu nahe wäre dann der.. ja, was eigentlich… der Feind gewesen?! Einkreisung?! Theorien dieser Art, das zeigt die Geschichte, führten stets zu großem Übel. In unserer multipolaren Welt, in der die große Blockkonfrontation überwunden ist, stellt sich die Frage, wozu dann unbedingt russischen Soldaten schneller Zugang zum Mittelmeer bewahrt bleiben soll. Natürlich ist es legitim zu sagen, dass sich auch die NATO diesen Realitäten zu stellen hätte, auch sie hätte keinen Grund Soldaten in den Hafen Sewastopols zu überführen. Damit wird deutlich, wie Putin denkt. Immer noch in militärischen Kategorien. Über 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges. Den Gegner sieht er im „Westen“. An der Spitze die USA.
Ressourcen, das sind eher Bodenschätze. Und der Rest der Ukraine beherbergt einige davon. Ein Schelm also, wer vor dem Hintergrund der schwächelnden russischen Wirtschaft und zehntausenden, hochgerüsteten Soldaten an den Grenzen zum ukrainischen „Bruderstaat“, Böses denkt.
Was traurig stimmen kann, ist das Gebaren der Vertreter der Linkspartei in dieser Angelegenheit. „Wenn Völkerrechtsverletzer anderen Völkerrechtsverletzern die Verletzung des Völkerrechts vorwerfen, ist das erst mal nicht sehr beeindruckend“, hat Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, gesagt. Dieser Kommentar mag eloquent, vielleicht sogar lustig gewesen sein. Ironisch. Er steckt überdies voller Zynismus. Eine Beteiligung Deutschlands am Bruch des Völkerrechts kam ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vor – im Kosovo-Konflikt im Jahr 1999. Deutsche Tornados warfen damals Bomben und Sätze wie „Nie wieder Auschwitz“ prägten die Öffentlichkeit. Völkerrechtsbruch war es, weil die UNO kein Mandat zu einem militärischen Einsatz erteilte, sich jedoch ausdrücklich zu der Unhaltbarkeit der Umstände und zur Feststellung einer „humanitären Katastrophe“ durchrang. Es darf geraten werden, wer die damalige Legitimierung der Mobilmachung im Weltsicherheitsrat blockierte, die ein UNO-Mandat bedeutet hätte. Damals ließ Milosevitsch Menschen wegen ihrer Religion und Ethnie ermorden, Sebrenica wurde zum Sinnbild moderner Massaker. Ganze Städte wurden belagert und Zivilisten beim Gang zum Bäcker o.ä. von Scharfschützen in den Kopf geschossen. Das hat eine andere Qualität, als die Geschehnisse in der Ukraine und das sollte Gysi wissen. Vielleicht ist es auch einfach zu schwer die alten Rechtfertigungsreflexe für russisches Auftreten von einst aus dem Kopf zu bekommen. Vielleicht ist es aber auch lediglich der Versuch davon abzulenken, dass das Verhalten Russlands im Zuge der ukrainischen Staatskrise nicht etwa Ausdruck von Stärke ist. Es ist eher das Gegenteil. Ein mächtiger Staat, der sich durch eine vermeintliche Bedrängung von Unwohlgesonnenen bedroht sieht und dann handelt, wie er es getan hat – das ist das Verhalten eines Staates, der der eigenen Stärke misstraut.
Das ist das Verhalten einer nervösen Großmacht. Im politischen Dialog begann Vladimir Putin, zu schreien.
Wer schreit, hat unrecht.
Glück Auf!
von Simon Reichhold