Mit der Immobilienkrise 2007/2008 und der daraus resultierenden Finanz- und Staatsschuldenkrise sind nicht nur ganze Volkswirtschaften, sondern auch lange sicher geglaubte ökonomische Dogmen ins Wanken geraten. Neben den Forderungen nach einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte, kehrte – u.a. ausgedrückt durch den Slogan „We are the 99% der Occupy-Wall-Street-Bewegung – die Frage nach der Verteilung von Einkommen und Vermögen zurück in die wirtschaftliche und ökonomische Debatte. In den Jahrzehnten zuvor wurden Bedenken hinsichtlich der steigenden ökonomische Ungleichheit noch mit der „Trickle down“-Doktrin und der Bemerkung „A rising tide lifts all boats“ als vorübergehendes Phänomen vom Tisch gewischt und Forderungen nach mehr Umverteilung als wachstumshemmend verurteilt. Mittlerweile sind die national steigenden und weltweit immer noch riesigen Unterschiede zwischen Arm und Reich kein Nischenthema mehr und erfahren in der Öffentlichkeit zunehmend an Resonanz. In diesem Beitrag sollen drei aktuelle Werke vorgestellt werden, die auf jeweils ambitionierte Art und Weise der Verteilungsfrage angenommen haben. Die Kernaussagen werden kurz zusammengefasst und die jeweiligen Lösungsvorschläge diskutiert.
Thomas Piketty – Das Kapital im 21.Jahrhundert
Thomas Pikettys Kapital im 21. Jahrhundert war – zumindest unter den Sachbüchern – wohl die am mesiten diskutierteste Neuerscheinung des Jahres 2014. Es wurde einerseits als „wichtigstes Buch des Jahres, wenn nicht sogar des Jahrzehnts“ (Paul Krugman) und als „Wendepunkt in der ökonomischen Literatur“ bezeichnet, andererseits wurde seine Datengrundlage und seine theoretischen Annahmen heftig kritisiert. Stark vereinfacht lässt sich die Kernaussage des Werks in drei Zeichen zusammenfassen: r > g. Piketty folgert auf Grundlage der von ihm ausgewerteten Steuerdaten ausgewählter Industrieländer, die z.T. bis in das 18.Jahrhundert zurückreichen, dass das Wachstum der Kapitalrendite r (bestehend aus Profiten, Renten, Zinsen, Kapitaleinkommen u.ä.) stets größer ist als der Wachstumsfaktor g (gemessen in Einkommen). In der Folge akkumulieren die Besitzer*innen von Kapital kontinuierlich mehr Wohlstand als diejenigen, die ihren Wohlstand über Löhne bestreiten. Die einzige Unterbrechung dieses Verhältnisses habe sich zwischen 1930 und 1975 ereignet. In dieser Epoche seien große Vermögen durch Inflation, Wirtschaftskrise, Kriege und starke Umverteilung vernichtet, bzw. stark vermindert worden, während Löhne und Sozialausgaben stark angestiegen seien. Seit den 80er-Jahren, so Piketty, seien die westlichen Industriestaaten zum ursprünglichen Verhältnis zwischen Kapitalrendite und Lohnwachstum zurückgekehrt. Daraus, so seine These, werde sich bei gleichbleibender Entwicklung ein „patrimonialer Kapitalismus“ entwickeln, wie er bereits im 19. Jahrhundert existierte. Wohlstand werde demnächst zu großen Teilen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt. Als Korrekturvorschläge führt Piketty eine globale progressive Vermögenssteuer von bis zu 2% und einen globalen Spitzensteuersatz von bis zu 80%.
Branko Milanovic – Die (un)gleiche Welt – Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht
Ähnlich wie Thomas Piketty konstatiert der serbisch-US-amerikanische Ökonom Branko Milanovic eine steigende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen in den westlichen Industrieländern in den vergangenen 30 Jahren. Im Gegensatz zu Piketty aber betrachtet er das Problem in seinem 2016 erschienenen Werk auch aus der globalen Perspektive. Für einige sicher überraschend konstatiert er zunächst, dass der Abstand zwischen armen und reichen Nationen in den letzten Jahrzehnten geringer geworden ist, der Abstand zwischen Arm und Reich innerhalb der Nationen aber stark zugenommen habe. Während nämlich besonders in Ostasien und Südostasien sich große Bevölkerungsgruppen sich aus materieller Armut befreien konnten und zu bescheidenem Wohlstand gelangten, stagnierte bzw. fiel sogar das Pro-Kopf-Einkommen der westlichen (unteren) Mittelklasse. Nichtsdestoweniger bleiben die Unterschiede zwischen den Ländern vorerst eklatant. Und genau diese Unterschiede neben Krieg und politischer Verfolgung die treibenden Kräfte für weltweite Migrationsbewegungen. Milanovics Vorschlag zur Lösung des Problems ist besonders unter dem Gesichtspunkt des Beschlusses der Juso-Bezirkskonferenz zur globalen Freizügigkeit interessant. Milanovic lehnt sowohl die unbeschränkte Freizügigkeit von Arbeitskräften (wie übrigens auch Bernie Sanders[1]) ab als auch eine Nicht-Regelung von Einwanderung oder Abschottung. Seine Idee ist es, Migration zu erleichtern, allerdings unter der Voraussetzung, dass (Arbeits-)Migranten mehr Steuern zahlen, gezielt nur befristete Verträge erhalten oder beschränkte Aufenthaltstitel bekommen sollten. Dies stellt nach Milanovic eine Verbesserung der aktuellen Situation dar und würde gleichzeitig rechtspopulistisch geschürte Ängste vor offenen Grenzen besänftigen.
Anthony B. Atkinson – Ungleichheit – Was wir dagegen tun können
Der in diesem Januar verstorbene Anthony Atkinson ist einer der Altmeister der Ungleichheitsökonom*innen. Wie auch Milanovic und Piketty konstatiert Atkinson in seinem eine Zunahme der Ungleichheit hinsichtlich Einkommen und Vermögen seit der Thatcher-Ära. Sein Buch behandelt im Wesentlichen das Vereinigte Königreich, bietet aber auch für die / den deutsche/n Leser*in interessante Vorschläge. Über die erwähnte Diagnose hinaus enthält das Werk fünfzehn Reformvorschläge und eine Machbarkeitsstudie. Neben der schon von Piketty geforderten stärkeren Besteuerung von hohen Vermögen und Einkommen stechen hier scheinbar ungestüme Forderungen wie einen staatlich garantierten positiven Realzins auf Ersparnisse mittels staatlicher Sparbriefe, die Auszahlung eines Mindesterbes, garantierte öffentliche Arbeitsplätze zu Mindestlohn oder ein EU-weites Grundeinkommen für Kinder u.v.m. Was auf den ersten Blick revolutionär aussieht, wird von Atkinson auf Finanzierbarkeit geprüft und sorgfältig auf pro und contra abgewogen. So gibt er etwa auch zu, dass es sich um kein abgeschlossenes politisches Programm handele und Belege zur tatsächlichen Wirksamkeit fehlen.
Abschließend möchte ich eine kurze Bewertung der von den drei Autoren aufgeführten Maßnahmen geben. Pikettys Vorschläge sind, wie er selbst schreibt, politisch unrealistisch. Sein Verdienst liegt mehr in der wissenschaftlichen Pionierarbeit hinsichtlich historischer Einkommens- und Vermögensverteilung. Milanovics Vorschläge zur Einwanderungspolitik mögen jedem*r Idealisten*in, dem/der die weltweite Gleichbehandlung am Herzen liegen, in der Seele Schmerzen. Allerdings können aus Sicht des Autors seine Vorschläge zur Erneuerung der Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie des Staatbürgerschaftskonzepts als Etappen zu einer freizügigeren Regelung von Migration aufgefasst werden. Schließlich liefert Atkinson im Gegensatz zu den anderen Autoren erfrischende, gut begründete Vorschläge, nicht nur wie Reiche besser besteuert werden können, sondern auch v.a. wie Umverteilung dem weniger vermögenden Teil der Bevölkerung zu Gute kommen soll.
Anzumerken sei noch, dass alle besprochenen Werke hier nur in aller Kürze wiedergegeben wurden. Für diejenigen, die Interesse haben, die Argumentationen detaillierter nachzuvollziehen wollen und mehr über das Thema Wissen wollen, rate ich zur Lektüre aller Werke.
[1] Bernie Sanders in einem Interview auf dem Youtube-Channel Vox: „Open borders? That’s a Koch brothers proposal.“ Die libertär-konservativen Koch-Brüder sind die Konzernchefs eines US-amerikanischen Mischunternehmens. Sie stehen den Republikanern nahe.
von Torben Stein