Die Entwicklungen der Weltwirtschaft in den letzten 20 Jahren waren und sind von dreierlei Veränderungsprozessen gekennzeichnet. Erstens verdoppelte sich das Angebot an Arbeitskräften durch eine Öffnung der Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Südamerikas, Chinas und Indiens für die Marktwirtschaft. Die Menschen in diesen Ländern sind bereit oder gezwungen für weitaus geringere Löhne als die Bewohner*innen Europas und Nordamerikas die gleiche Arbeit zu verrichten. Vor allem arbeitsintensive Produktionen und Tätigkeiten wurden und werden in Niedriglohnländer verlegt und garantieren den jeweiligen Firmen und Kapitalbesitzer*innen üppige Renditen und Gewinne. Die Grundlage für diese Entwicklung stellt den zweiten Veränderungsprozess dar: Die fortschreitende Technisierung und die Entwicklung neuer Technologien, sowie den damit verbundenen, stark sinkenden Transaktionskosten und die Aufspaltung des Produktionsablaufes in immer kleinere Zwischenschritte. Dadurch entkoppeln sich die Aufgaben der Arbeitnehmer*innen nicht nur auf der Produktebene, sondern auch auf der Aufgabenebene zunehmend vom Endprodukt. Das führt zu einer Umstrukturierung der Unternehmen und zu massiven Aus- und Verlagerungsprozesses. Drittens begünstigt die Globalisierung die Entstehung von Agglomerationsräumen mit allen ihren Eigenheiten. Beispiele hierfür sind die stagnierende und teilweise sogar steigende nationale und regionale Divergenz der finanziellen Einkommen zwischen den Menschen. Die weltweiten Volkswirtschaften unterliegen zwar bestimmten Konvergenzprozessen, die regionalen Einkommensdisparitäten, beispielsweise in der Europäischen Union, haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten nicht feststellbar verringert, obwohl große finanzielle Anstrengungen unternommen worden sind, über Fonds in der Regionalpolitik eine Einkommensanhebung in den ärmeren Regionen zu erreichen.
Auch die Entwicklungstendenzen städtischer Arbeitsmärkte sind von vielfältigen Prozessen der ökonomischen Restrukturierung beeinflusst. Dazu gehören die Schließungen traditioneller Industriebetriebe auf der einen Seite und die Errichtung von Produktionsstätten im „High-Tech“-Sektor, sowie Firmengründungen im Dienstleistungsbereich auf der anderen Seite. Die metropolitanen Zentren entwickeln sich im Rahmen der ökonomischen Globalisierung und der damit verbundenen internationalen Arbeitsteilung kontinuierlich fortschreitend zu Standorten von wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Entscheidungszentren und begünstigen dadurch auch die Entstehung produktions- und unternehmensorientierter Dienstleistungsunternehmen. Diese Entwicklung ist verantwortlich für eine Polarisierung der Arbeitsmärkte. Einerseits entstehen hochrangige und hochbezahlte Arbeitsplätze für höher qualifizierte Arbeitnehmer in den Bereichen Unternehmensführung, Organisation und Marketing, Finanzen und Versicherungen, Immobilienhandel, Rechts- und Unternehmensberatung, EDV-Dienstleistungen, sowie Forschung und Entwicklung. Andererseits wächst auch der Bedarf an niedriger und gering qualifizierten Arbeitnehmer*innen für gering entlohnte, zumeist ungeschützte und oftmals nicht sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten; beispielsweise in der Gastronomie, Hotels, Freizeiteinrichtungen und privaten Haushalten, sowie in den Bereichen von Bürohilfs-, Reinigungs- und Botendiensten. Parallel zu dieser Entwicklung findet aufgrund des Deindustrialisierungsprozesses weiterhin ein Arbeitsplatzabbau im Fertigungsbereich statt. Dadurch verringert sich der Anteil an Menschen in festen und dauerhaften Arbeitsverhältnissen mit mittlerem Einkommen, wovon vor allem Facharbeiter betroffen sind. Diese Reduktion von Kernbelegschaften über Rationalisierungsmaßnahmen oder deren Ersetzen durch Leih- und Zeitarbeitern lässt den Anteil der Mittelschicht, nicht nur in der deutschen Bevölkerung, abnehmen und führt zu einer Abwertung des Faktors Arbeit.
Ein Bedingungsloses Grundeinkommen stärkt kleine und mittlere Einkommen und sichert somit die finanziellen Ansprüche von Menschen, die gezwungen sind, im Niedriglohnsektor oder in Bereichen zu arbeiten, denen unser Wirtschaftssystem weniger materielle Entlohnung zuteil werden lässt. Außerdem fördert es die Risikobereitschaft für den Schritt in die Selbstständigkeit. Es gewährleistet Sicherheit über die materiellen Verhältnisse in jeder Lebenslage. Auch die dramatische, versteckte Armut und Kinderarmut würde, vor allem in Kombination mit dem Ausbau der sozialen Infrastruktur effektiv bekämpft. Die gesellschaftliche Teilhabe wäre nicht nur in materieller, sondern auch in institutioneller und kultureller Weise garantiert. Auch ehrenamtliches Engagement in Vereinen oder Organisationen, sowie familiäres Engagement bei Pflegebedürftigkeit eines Familienmitgliedes würden gestärkt und wären materiell gesichert. Aufgrund der Unabhängigkeit von der Haushaltssituation und dem individuellen Rechtsanspruch auf den Bezug der Leistungen wären vor allem Frauen unabhängiger und könnten ihre gesellschaftliche Position freier wählen und ihr Leben eigenmächtiger entwerfen. Die Vormachtstellung des Alleinverdienerhaushaltes könnte nach Wunsch modifiziert oder abgelehnt werden und die Verteilung der Erwerbsarbeit innerhalb von Partnerschaften und Familien freier erfolgen.
Das in einem Gesamtkonzept entstehende Steuersystem würde kleine und mittlere Einkommen entlasten und obere Einkommensgruppen moderat stärker belasten. Außerdem wäre das integrierte Steuer- und Transfersystem wesentlich einfacher, transparenter und übersichtlicher als in der gegenwärtigen Praxis. Die frei werdenden Energien der Beamten in Jobcentern könnten gänzlich für die Unterstützung, Beratung und Vermittlung eingesetzt werden. Zudem würde ein großer Teil der Sozialbürokratie überflüssig und könnte in Institutionen und Agenturen beispielsweise zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder sozialen Dienstleistungen reformiert werden. Bei einer einheitlichen Besteuerung von 50 % würde sich durch den Ausgleich des BGE der effektive Steuersatz automatisch an die Höhe des Einkommens anpassen. Bis 1000 Euro würden keine Steuern fällig, im Gegenteil, das BGE wird immer in voller Höhe ausbezahlt. Wie in der folgenden Tabelle deutlich wird, nähert sich bei steigendem Gehalt die Einkommensteuer 50 % an.
Diese revolutionäre Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens würde eine Erneuerung des Vertrauens in einen gerechten und verlässlichen Sozialstaat stark begünstigen. Die dadurch immerwährende Sicherheit und individuelle Ausgestaltung vermögen die Kaufkraft und damit das Verbraucher*innenverhalten nachhaltig zu verändern. Auch längerfristige Investitionen, beispielsweise in Wohneigentum oder Sanierungsmaßnahmen, könnten getätigt werden. Aufgrund einer Steigerung der Kreditwürdigkeit, würden Existenzgründungen gefördert. Die Risikobereitschaft wäre höher und das Existenzgründungskapital ginge in die Investitionen und nicht in die Lebenshaltungskosten. Somit würde Selbstständigkeit erleichtert, der Trend des Lohndumpings gestoppt, weil die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer*innen gestärkt wird – Mensch müsste nicht mehr um jeden Preis bzw. für jeden Lohn arbeiten – und flexiblere Arbeitszeitmodelle in einem humanem Umfeld könnten entstehen. Eine unverzichtbare Voraussetzung hierfür ist allerdings die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes ohne Ausnahmen. Aufgrund der geringeren Erpressbarkeit von Arbeitnehmer*innen können sie Ausbeutung souveräner Anzeigen und stärkten somit auch die Position der Gewerkschaften.
Auch den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die Idee eines Grundeinkommens gut angepasst: Eine weitere Automatisierung und Rationalisierung der Produktions- und Aufgabenebene wäre von allen Seiten erwünscht. Außerdem werden innovative Ideen, das Kernelement einer exportorientierten Wirtschaft und Wissensgesellschaft, gerade aufgrund einer gewissen finanziellen Unabhängigkeit und Freiheit, allgemein unterstützt. Der höchste Zweck der Gesellschaft wäre nicht mehr die Schaffung von Arbeitsplätzen und die reine Erwerbsarbeit an sich, sondern die Werterzeugung, auch durch unwirtschaftliche Tätigkeiten. Gerade dieser Aspekt stärkt geniale Ideen und Lebensqualität.
Die Grundlage der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens ist ein anderes Menschenbild als bei anderen Systemen sozialer Absicherung. Es basiert nicht nur auf Solidarität zwischen Arbeitenden und Arbeitssuchenden, Gesunden und Kranken, Jungen und Alten, sondern auf einer Betonung und dem Glaube an mündige Bürger*innen; an verantwortungsbewusste und arbeitswillige Menschen, dem es an Arbeit bedarf, um sich zu verwirklichen; dass sie essentiell für seine Existenz ist.
Das Grundeinkommensmodell vereint zudem sehr wichtige, oftmals als Widersprüche begriffene Eigenschaften, einer unter veränderten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, zukunftsfähigen und modernen Gesellschaft. Es wird nicht nur die Solidarität gestärkt, sondern auch die Freiheit jeder*s Einzelnen als mündige*n Bürger*in anerkannt und geschützt. Aufgrund eines Pro-Kopf-Grundeinkommens werden Familien wirtschaftlich gestärkt. Außerdem werden zusätzlich die Jugendlichen gefördert und können ihr Engagement sinnvoll nach persönlichen Interessen und Neigungen in die Gesellschaft einbringen. Somit erleben diese eine freiheitlichere Entfaltung, welche nicht in einer tristen, rein unter wirtschaftlichen Zwängen auserwählten, beruflichen Tätigkeit enden muss. Durch das Aufwachsen in einer nach solchen Prinzipien gestalteten Gesellschaft können junge Menschen ein neues Selbstverständnis und -bewusstsein entwickeln, welches nicht nur die Motivation fördern kann und damit zu einer höheren Leistung bei allen beruflichen und anderweitigen Tätigkeiten führen würde, sondern auch zu einer positiveren Einstellung unserer Gesellschaft, einer Weiterentwicklung unseres politisch-gesellschaftlichen Systems und dem damit verbundenen Politikbetrieb gegenüber. Das Grundeinkommensmodell ist mit Sicherheit kein Allheilmittel aller wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Probleme, doch es macht unsere Gesellschaft angstfreier und Ideenreicher und schafft somit die Kapazitäten für Veränderung. Es ermöglicht Lösungen.
von Julian Steiner