Jusos Hessen-Nord

Ein Kommentar über Gute Vorsätze

Gute Vorsätze

reich – weiß – hetero – deutsch – Mann

von Lars Hennemann     (11. Januar 2021)

„Endlich vorbei“, habe ich gedacht, als das Jahr 2020 in der Dunkelheit des 31. Dezembers
verschwand. Nicht einmal Raketen oder Böller wurden angezündet, um diesem Scheißjahr
nachzuweinen.

Als vom Dorf stammender Städter bin ich tumultartige Dorffeste und Gruppenknuddeln um
Mitternacht gewöhnt und vermisse in diesem Jahr das gesellige Beisammensein, meine
Freundinnen und Freunde und auch meine Familie.

Natürlich war ich in diesem Jahr wahrscheinlich nicht der Einzige, der mit einem komischen
Gefühl im Bauch auf dem Balkon stand und um 0 Uhr von den Raketen versetzt wurde – was
wahrscheinlich ein Segen für die heimische Tierwelt war – vielleicht der Beginn einer neuen
Tradition?

Doch was fängt man mit einem „Neustart“ – einem neuen Jahr an, mit einer neuen
Gelegenheit alles besser oder anders zu machen als zuvor?
Höhere Frequentierung im Fitty, mehr Aussteigerprogramme für Nazis oder vielleicht mal ein
Fläschchen vom Bierkasten weniger trinken?

Es gibt einfach zu viele Dinge auf dieser schönen blauen Kugel, als dass wir sie alle probieren
könnten – doch darf man es nicht wenigstens noch versuchen?

Bevor dies ein Text wird, bei dem jeder Satz mit einem Fragezeichen endet, möchte ich nun
zum Thema kommen:
Das schwermütige Gefühl, das wir in diesen Zeiten der Pandemie fühlen, ist ein Wink mit dem
Zaunpfahl. Es zeigt uns, dass sich ohne Eigenverschulden über Nacht alles ändern kann. Wer
von uns hätte diese Einschnitte in unserer aller Leben vor einem Jahr für möglich gehalten?
Wahrscheinlich niemand.

Die Pandemie hat viele Probleme unserer Zeit hervorgehoben und verstärkt. Überrascht hat
mich, dass so viele überrascht waren. Man könnte an dieser Stelle eine sehr lange Liste
aufführen, in der alle Probleme und Ungleichheiten aufgeführt werden, die durch die
Pandemie für einige scheinbar erst jetzt sichtbar geworden sind. Ich habe mich aus Papierund Pixelspargründen für folgende Darstellung entschieden:
Bitte bei deinem nächsten Gespräch mit Gott(1) um die Wiedergeburt als reicher, männlicher,
weißer, hetero-Deutscher. Dann wird es dir trotz Pandemie oder anderer Probleme im Schnitt
besser gehen als allen anderen Menschen auf der Welt. Bevor hier Unmut aufkommt möchte
ich betonen, dass es um den Durchschnitt geht. Wenn ich noch einmal den Satz: „Männer
können auch von Frauen belästigt werden,“ hören muss, kotze ich im Strahl.

Nun mag dem einen oder der anderen bekannt sein, dass ich ein absoluter Alpha-Alman bin,
der alle Kriterien erfüllt, die ich eben im Absatz als Gebetswunsch an transzendente Wesen
vorgeschlagen habe. Da Corona alle Privilegien dieses Umstandes, der nicht einmal auf meinen
eigenen Leistungen aufbaut, massiv verstärkt hat, möchte ich meine Lehre aus der ganzen
Sache ziehen.

Quasi meine Ziele für das neue Jahr vorstellen:
Ich nehme mir als Neujahrsvorsatz vor, allen Menschen die Attribute, die hinter den Worten
weiß, männlich, hetero, reich und deutsch stehen, zu ermöglichen. Aber eben nur den
positiven Teil. Doch was ist das und wie trennt man raus, was gut oder was schlecht ist? Ich
sortiere mal grob vor – die Feinarbeit wurde bereits von vielen Wissenschaftler*innen
übernommen (Literaturtipps auf Anfrage oder gerne mal bei den Jusos vorbeischauen):

Männlich(2) = dominant (fliegt raus),
Männlich = höheres Gehalt (wird für alle* eingeführt)

Reich = Überfluss und Verschwendung (fliegt raus),
Reich = Zugang zu Nahrung, Wasser, Bildung, Infrastruktur, sozialer Teilhabe und Kultur (wird
eingeführt)

Weiß(3) = Etwas Besseres als andere Menschen (fliegt raus)
Weiß = weiße Hautfarbe (bleibt wie es ist, bis sich das selbst erledigt #Mendel)

Hetero = Gott wollte es so und nur so! (fliegt raus)
Hetero = Ach, keine Ahnung, mach doch was du willst, ist mir doch egal, was du mit wem
machst. Anspieltipp Sookee – Queere Tiere.

Deutsch = durch Geburt (fliegt raus, gilt eh nicht, denken aber viele)
Deutsch = in Deutschland lebend und hier wohnen möchten (bleibt, wird aber endlich
gesellschaftlich anerkannt).

Diese unvollständige und grobe Vorsortierung reicht aus, um viele Kernprobleme zu
verstehen. Im Jahr 2021 werden wir noch mehr darauf angewiesen sein, einander zuzuhören
und Belange anderer Menschen zu verstehen. Dafür braucht es Zeit, Anstrengung und
manchmal auch Mut.

Es ist nie zu spät gegen Ungleichheiten zu kämpfen und es ist vollkommen okay, nicht perfekt
zu sein und nicht alles richtig zu machen.

Es ist aber nicht okay, wenn man die Probleme kennt und sie einfach ignoriert oder wenn man
sich trotz schwieriger Fragen nur mit einfachen Antworten umgibt und keinerlei Interesse
daran zeigt, sich selbst einmal zu hinterfragen.

Vor der eigenen Haustür kehren ist immer der richtige Lösungsansatz. Je mehr Leute dies
versuchen, desto weniger dreckige Bordsteine des Nachbarn gibt es, über die man sich
beschweren kann. Das Risiko sollten wir eingehen.

 

 

(1)Oder was auch immer dich als transzendentes Wesen so anlacht
(2) Die Liste über die negativen Seiten des Männlichen ist leider so lang, dass andere Leute ganze Bücher darüber
geschrieben haben!

(3) Auch hier gilt, dass es Bücher bedarf, um das Problem wissenschaftlich darzustellen – das Grundprinzip der
Ungleichbehandlung ist hingegen sehr einfach zu verstehen.